Leseprobe KAISERS NACHTIGALL
Ein musikalisches Märchen sehr frei nach Hans Christian Andersen
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1. Bild
Das Zimmer von Kaiser. Ein einziges Durcheinander von Strippen, Stangen, Zahnrädern und abstrusen Maschinen, deren Sinn und Zweck nicht auf den ersten Blick zu erkennen ist. Ansonsten alle Anzeichen einer gründlich verwahrlosten Junggesellenbude: unabgewaschene Kaffeetassen, alte Unterhosen, ungegossene Blumen. Kaiser im Bademantel über einem schmuddeligen Schlafanzug, beobachtet von Karl, einer skeptisch guckenden Kakerlake.
Eine kleine, hektische Ouvertüre in mechanischem Rhythmus, während Kaiser konzentriert versucht, ein Zahnrad und eine Schnur zu verbinden. Zweimal hört man in der Musik, daß ihm dieses mißlingt, beim dritten mal ist er erfolgreich.
Karl:
Weißt du, wie spät es ist?
Kaiser:
Was?
Karl:
Es ist drei Uhr nachts! Anständige Kakerlaken liegen um drei Uhr Nachts im Bett und schlafen!
Kaiser:
Ich bin keine anständige Kakerlake.
Karl:
Aber ich!
Kaiser:
Ha!
Karl:
Was?
Kaiser:
Er funktioniert. Das heißt, er WIRD funktionieren.
Karl:
Bist du sicher?
Kaiser:
Was soll das heißen,'bist du dir sicher?" Natürlich bin ich mir sicher.
Karl:
Er sieht ein bißchen merkwürdig aus.
Kaiser:
Er sieht wunderbar aus. Er sieht genauso aus wie etwas, das funktioniert.
Karl:
Und was kann er?
Kaiser:dreht konzentriert an einer Schraube
Wer?
Karl:
Der Dingsbums da.
Kaiser:
Das ist kein Dingsbums. Das ist Diener Nummer Vier.
Karl:
Aha. Und was kann Diener Nummer Vier?
Kaiser:
Du wirst begeistert sein. Diener Nummer vier ist das Beste, was ich bis jetzt entwickelt habe. Ein streng nach den Regeln des Ursache-Wirkung- Prinzips konstruierter vollautomatischer Vollautomat, der uns unser Leben mehr als erleichtern wird.
Karl:
Du hast doch schon drei Dingsbumse, die dir das Leben mehr als erleichtern.
Kaiser wirft Karl einen Blick zu, daß er jetzt nicht mehr unterbrochen werden möchte. Konzentriert setzt er Diener Nummer vier in Bewegung. Mit dem Vorspiel von Nummer II setzt sich ein abenteuerlicher Apparatismus in Bewegung. Die Kanne wackelt und gießt Kaffee in die Tasse, ein mechanischer Löffel kippt Zucker dazu und schließlich tropfen drei Tropfen Milch in die Tasse. Es funktioniert! Kaiser ist sehr stolz.
No 1 Es funktioniert
Kaiser:
Es funktioniert! Es funktioniert!
hast du geseh'n, wie's reagiert?
Ich drücke hier, dort wird serviert
ich seh' wie dir das imponiert!
Es funktioniert, es funktioniert
jedoch das Beste sag ich dir
ist, daß die Sache garantiert
von jetzt an JEDESMAL passiert:
Man wünscht Kaffee, und man drückt hier
und jedesmal wird dann filtriert
das ist so schön ,wenn's funktioniert
denn man weiß immer, was passiert!
Nichts hass ich mehr als wenn ich mir
nicht klar bin, wie wer reagiert-
denn das bedeutet garantiert
das irgendwas nicht funktioniert!
Karl:
Wenn's nicht funktioniert, funktioniert's halt nicht. Pech.
Kaiser:
Eben nicht! Kein Pech! Wenn irgend etwas nicht funktioniert, hat das einen GRUND!
Karl:
Kaputt ist es trotzdem.
Kaiser:
Aber wenn man den Grund weiß, ist es nicht so beunruhigend.
Karl:
Beunruhigend?
Kaiser:
Ich finde es überaus beunruhigend, wenn man nicht weiß, was als nächstes passiert. Aber wenn etwas funktioniert, weiß man immer, was als nächstes passiert. Und deshalb ist es auch so wichtig zu wissen, WIE etwas funktioniert. Damit man weiß, was als nächstes passiert!
Karl:
Deshalb hast du auch dieses Dingsbums gebaut, mit dem du gucken kannst, wer vor der Tür steht, oder?
Kaiser:
Das ist kein Dingsbums, das ist Diener Nummer Zwei.
Karl:
Du könntest auch die Tür aufmachen und gucken, wer davor steht.
Kaiser:
Lieber nicht. Da weiß man nie, was passiert-
Karl:
Gar nichts.
Kaiser:
Was?
Karl:
Es passiert gar nichts. Weil du ihn nicht rein läßt. Du läßt nie jemanden rein.
Kaiser:
Das stimmt doch überhaupt nicht. Erst letztens habe ich jemanden hereingelassen.
Laß mich überlegen, wann war das noch..?
Karl:
Den Gasmann.
Kaiser:
Genau.
Karl:
Das war vor zwei Jahren......
2. Szene (Ausschnitt)
Auf dem Dach sitzt Nachtigall und singt:
Nachtigall
Ich flieg wohin
egal wohin
da wo mich einer liebt
der sehnt sich schon nach mir so sehr
noch heute flieg' ich zu ihm her
vielleicht auch übermorgen
da ist kein Unterschied
Karl:
Da sitzt ein Mädchen auf dem Dach und singt.
Kaiser:
Da kann kein Mädchen auf dem Dach sitzen und singen weil wir im sechsten Stock wohnen. Also sitzt da auch kein Mädchen auf dem Dach und singt. er guckt aus dem Dachfenster Da sitzt ein Mädchen auf dem Dach.
Karl:
Und singt.
Kaiser:verklärt
Und schön...
Nachtigall:
Da bleib ich dann
und bleib ihm treu
solange er mich liebt
ein Leben lang ganz ohne Klag'
ein halbes Jahr , vielleicht ein Tag
vielleicht auch überhaupt nicht
da ist kein Unterschied.
Stille. Karl und Kaiser sind ganz fasziniert.
Karl:flüstert
Du mußt sie hereinbitten.
Kaiser:zu Karl
Was?
Karl:flüstert
Das ist eine Dame! Damen muß man hereinbitten!
Kaiser:
Ich weiß nicht. Es könnte etwas Unvorhergesehens passieren.
Karl:
Hoffentlich.
Kaiser:
Könntest du sie nicht hereinbitten?
Karl:
Wenn ich sie hereinbitte, passiert bestimmt was Unvorhergesehens. Damen mögen keine Kakerlaken.
Kaiser:
Da hast du recht.
Karl:
Jetzt mach schon! Es wird schon nichts passieren.
Kaiser:
Natürlich wird nichts passieren. Warum soll was passieren? Die Frage ist bloß, WAS wird nicht passieren?...
3. Szene (Ausschnitt)
Kaiser hat Nachtigall hereingebeten
Kaiser:
Und WARUM bist du da?
Nachtigall:
Oh, du stellst komplizierte Fragen. Du bist bestimmt ein sehr kluger Mann.
Kaiser:
Nun ja, nicht besonders klug. Ein bißchen klug. Ein bißchen ziemlich klug.
Nachtigall:
Ich glaube, du bist sehr klug. Du stellst lauter Fragen, die ich nicht beantworten kann.
Kaiser:
Danke. Und wo kommst du her?
Nachtigall:
Siehst du, schon wieder so eine kluge Frage.
Kaiser:geschmeichelt
Das sind die W- Fragen.
Nachtigall:
Was für Fragen?
Kaiser:
Die W- Fragen: Wer, Was, Wo, Wie und Warum. Wenn man diese Fragen beantworten kann, weiß man, wie eine Sache funktioniert.
Nachtigall:
Du bist wirklich ein SEHR kluger Mann. Du bist so klug, daß ich dich überhaupt nicht verstehe.
Kaiser:
Nun ja, nehmen wir einmal an, wir wüßten, WER du bist, und WAS du hier willst, und WO du herkommst, und WARUM du hier bist, dann wüßten wir vielleicht auch, WIE du auf meinen Dach gekommen bist. Aber da du nicht weißt, WER du bist und WO du herkommst und WARUM du hier bist, wissen wir es nicht.
Nachtigall:
WER ich bin, weiß ich.
Kaiser:
Oh. Und wer bist du?
Nachtigall:
Nachtigall.
Kaiser:
Warum Nachtigall?
Nachtigall:
Jetzt fragst du schon wieder so eine komplizierte Frage.
Kaiser:
Vielleicht, weil du so schön singst.
Nachtigall:
Vielleicht. Und wer bist du?
Kaiser:
Ich bin Kaiser. Das heißt, ich bin kein Kaiser. Ich heiß nur so.
Nachtigall:
Ich kannte einmal einen Kaiser. Er hieß der Kaiser von China. Aber das ist lange her.
Kaiser:
Wie lange?
Nachtigall:
Zwei Tage?
Kaiser:
Zwei Tage ist doch nicht lange her.
Nachtigall:
In China schon.
Kaiser:
Der Kaiser von China bin ich nicht. Ich bin der Kaiser aus dem sechsten Stock.
Nachtigall:
Der Kaiser von China war mein Freund. Ich liebte ihn und er liebte mich.
Kaiser:verliebt
Das kann ich verstehen.
Nachtigall:
Was?
Kaiser:
Nichts. Ich meine- und dann?
Nachtigall:
Dann hat er mich vergessen.
Kaiser:
Vor zwei Tagen?
Nachtigall:
Ich glaube.
Kaiser:
Wenn er dich liebt, wie kann er dich dann vergessen?
Nachtigall:
Er hat seine Meinung eben geändert.
Kaiser:
Das verstehe ich nicht. Ich ändere meine Meinung nie.
Nachtigall:
Ich ändere meine Meinung ständig.
Kaiser:
Das finde ich aber sehr beunruhigend. ...