Das unmögliche Genre - Ist die Operette noch zu retten?

Mit der Frage: Ist die Operette noch zu retten, stellen sich gleich mehrere Fragen auf einmal: Zum einen: Ist die Operette überhaupt in Gefahr? Und wenn ja, welche Gefahren wären das? Zum zweiten die Frage: Will die Operette überhaupt gerettet werden? Die Operette will nämlich vieles nicht, was andere Theaterformen wollen. Drittens dann die zentrale Frage: Wie könnte die Operette gerettet werden? Und schließlich die wichtigste Frage an uns: Wollen wir das überhaupt? Was haben wir davon?

I WELTKULTURERBE - JA ODER NEIN

In welcher Gefahr befindet sich die Operette?

Ganz sicher in der Gefahr, vergessen zu werden. Aber das teilt sie mit jeder zeitgenössischen Kunst, und in Anbetracht unserer aus allen Nähten platzenden Kulturgeschichte sollten wir über jedes Werk, daß es nicht ins nächste Jahrhundert schafft, eigentlich froh sein. Es wird wohl immer ein Rätsel bleiben, welches Werk es aus welchem Grund ins Weltkulturerbe schafft, und wir Nachgeborenen müssen natürlich glauben, daß diese Auswahl nur in unserem unbestechlichen Qualitätsanspruch begründet liegt. Griechische Tragödie ist gut, Shakespeare ist gut, Mozart ist gut, Verdi und Wagner sind gut, Tschechow ist gut. Ob Brecht gut ist, wissen wir noch nicht.

Unabhängig von dem leichten Unbehagen, wir könnten uns bei dieser Auswahl eventuell auch geirrt haben. Vielleicht wurde etwas wichtiges vergessen, vielleicht hat sich jemand zu Unrecht auf diese Liste geschlichen - Wagner vielleicht? Bleibt die Tatsache, daß wir uns gerne und ergiebig mit diesem Weltkulturerbe auseinandersetzen, daß wir uns nicht langweilen, wenn wir das tun und daß diese Werke uns anscheinend immer noch etwas über uns selber erzählen. Eine Entführung aus dem Serail mit nackten Sängern schafft es immer noch auf die Titelseite der BZ, und deshalb sind diese Werke gut.

Die Operette ist lange nicht auf dem Titel der BZ gewesen. Operette ist auch nicht gut. Jedenfalls nicht im Begriff des Weltkulturerbes. Und damit sind wir bei der zweiten Gefahr, die der Operette droht, und diese hat ihr vom ersten Tag an gedroht: Die Operette wird sehr leicht mißverstanden. Das, was wir mit dem Begriff Operette heute verbinden, würde einigen Machern dieser Gattung die Haare zu Berge stehen lassen. Unser Bild von Operette wird heute bestimmt von einigen fast vergessenen ZDF-Nachmittagen mit Anneliese Rothenberger (kennt irgendwer noch Anneliese Rothenberger?) und den Seefestspielen Mörbisch. Das wäre ungefähr so, als gäbe es von Verdi nur noch die 3-Tenöre-Variante auf dem Gendarmenmarkt, und das wird Don Carlos auch nur sehr bedingt gerecht.

Die Operette kommt in der Öffentlichkeit also faktisch nicht mehr vor. Damit hat sich die Gefahr, vergessen zu werden, schon fast erfüllt. Das könnte natürlich beweisen, daß die Operette eben nicht gut genug und damit vergessenswert ist. Ich nehme jetzt mal den anderen Weg: daß sie mißverstanden wird und daß hinter manchem 3-Tenöre-Gedaddel doch noch ein erhaltenswertes Werk steckt, daß vielleicht doch auf das Weltkulturerbe gehören könnte.

II MISSVERSTÄNDNISSE

Die Operette wird also mißverstanden. Das klingt weinerlich und nach endlosen Beziehungsdiskussionen: Du verstehst mich nicht.

Und so werden in der Tat viele Diskussionen über die Operette geführt: Wie in einer alten Beziehung. Früher hast du mich verstanden, früher hast du mir noch zugehört, früher war alles schöner. Ja, früher. Das ist das Totschlagargument gegenüber der Operette. Früher war alles ganz anders. Ob es wirklich so anders war, können wir nicht wissen, wir waren nicht dabei. Aber die Generation, die jetzt auf das Interpretationsrecht von Operette besteht, das ist das Publikum ab 60 aufwärts, war, wenn man einmal genau nachrechnet, ebenfalls nicht dabei, als die Operette erfunden wurde. Sie tun nur so, und daß genau diese Generation die Operette am gründlichsten mißverstanden hat, macht die Sache nicht einfach.

Aber warum wird die Operette ständig mißverstanden? Ich würde behaupten, weil sie mißverstanden werden will. Die Operette entzieht sich. Sie ist nicht eindeutig, weil sie nicht eindeutig sein will. Sie will nicht eindeutig sein, weil sie festen Verhältnissen mißtraut, den angeblich stabilen Werten, dem gesellschaftlichen Konsens und der ewigen Liebe. Und um im Beziehungsbild zu bleiben: Dieses Entziehen findet man zu Beginn ja so überaus reizvoll. Das macht die Jagd und den Flirt aus. Aber irgendwann will man heiraten und dann hätte man es gerne etwas eindeutiger. Die Operette läßt sich aber nicht heiraten.

Um diesem Mißverständnis Operette auf die Spur zu kommen, muß man natürlich erst mal klären, was Operette überhaupt ist. Operette ist auf jeden Fall nicht das verlogene Liebesduett im ZDF auf dem direkten Weg zu Carmen Nebel. Darüber hätte Offenbach gekotzt, und ich mit ihm.

III TRAUMLAND OPERETTE

Die Operette als „lebendige Gattung“ hat es ca. 60 Jahre gegeben - von 1860 bis 1920. Das ist nicht lang. In der Zeit war sie aber neben der Feydeauschen Boulevardkomödie das fast alleinherrschende Unterhaltungsmedium. Also im Prinzip alles das, was heute Hollywood, Fernsehen und Popmusik zusammen ausmacht. Wenn wir uns einmal klarmachen, wie sehr diese drei heutigen Medien unser Selbstbild und unseren Alltag prägen, bekommt man eine leise Ahnung davon, was für eine gesellschaftliche Macht die Gattung Operette damals war.

Operette prägte in diesen sechzig Jahren die Wünsche und Lebensvorstellungen der gesamten westlich zivilisierten Welt: Ob ein Paris der Weltausstellung so war, wie wir uns es vorstellen, wissen wir nicht. Daß wir es uns kollektiv so vorstellen, wie es vor drei Jahren in Moulin Rouge über die Leinwand getobt ist, ist das Verdienst der Operette. Oder ihre Schuld.

Genau wie Kino und Popmusik heute unsere Welt erst erforschen, dann spiegeln und uns schließlich mit unseren eigenen Träumen, auf Hochglanz gebracht, erschlagen, hat auch die Operette erst mal geguckt, was gesellschaftlich da ist, diese Informationen künstlerisch überhöht und damit eine Parallelwelt erschaffen, die größer, schöner, erotischer und aufregender ist als das reale Leben. Das tut zwar jede unterhaltende Kunst, diese Verdichtung und Überhöhung ist ihre Aufgabe. Aber kaum eine Gattung hat sich dabei so dreist und offen beim realen Alltag bedient, hat behauptet, just im Nebenzimmer würde das große Abenteuer warten und in jedem von uns schlummert ein erotischer Held.

Das ist natürlich ein sehr verpflichtender Lebensentwurf, den die Operette da in den Raum stellt, und mancher mag sich davon erschlagen gefühlt haben, und noch mehr mögen sich geschämt haben, daß sie dieser Illusion so bereitwillig auf den Leim gegangen sind. Das mag auch ein Grund dafür sein, warum die Operette im Nachhinein so totgeschwiegen wird. Eine ganze Gesellschaft schämt sich, daß sie einer Gattung geglaubt haben, die dazu nie aufgefordert hat. Und daß diese Gattung ihre letzte Blüte im Dritten Reich hatte, macht die Sache nicht besser. Aber selbst da hat jede zweite Textzeile offen gewarnt: „Ich spiel mit dir Blindekuh“, „Flieg mit mir ins Land der Illusion“, „Man sieht die Welt mit einer rosaroten Brille an“.

Die Welt, die uns die Kunst präsentieren kann, für real zu halten, ist kein ungefährlicher Vorgang, wie wir alle wissen. Die Selbstverpflichtung, die wir gegenüber unseren perfektionierten Träumen fühlen, kann uns sehr quälen. Das weiß jedes vierzehnjährige Mädchen, dessen Bauchnabel sich weigert, wie der von Britney Spears auszusehen.

Aber im Gegensatz zu Britney Spears hat die Operette nie behauptet, ihre Scheinwelt hätte einen Anspruch auf Realität. Die Operette wurde in ihren Anfängen sehr viel klarer als das gesehen, was sie war: Ein satirischer Blick auf die Unmöglichkeiten des Daseins, ohne jedes Glücksversprechen oder kitschige Himmelfahrtskommandos, ein Angebot zu lachen, über die eigene Gesellschaft, über die eigenen Sehnsüchte und damit über sich selbst.

Mit einem Wort, die Operette wurde damals richtig verstanden.

Das liegt sicher zum einen daran, daß das Publikum vor hundertfünfzig Jahren der Kunst eine sehr viel stabilere gesellschaftliche Identität entgegensetzen konnte. Man war viel eindeutiger Berufsgruppe, Familienstand, national und regional verankertes Individuum. Da ist nicht jede brandenburgische Hausfrau mit dem brennenden Wunsch aus der Operette gelaufen, so wie Fritzy Massary zu sein.

Aber die Operette hat es als Gattung auch sehr viel fairer angefangen, ihrem Publikum ihre Traumwelt anzubieten als heute zum Beispiel Madonna und Co. Natürlich arbeitet die Operette mit Glücksversprechen, mit den unerfüllten Träumen ihres Publikums - das tut jede Kunst. Aber wenn sie gut war, und über diese Operetten möchte ich jetzt gerne sprechen, hat sie nie versäumt, die gesellschaftlichen Unmöglichkeiten mit zu benennen, warum diese Glücksversprechen unerfüllbar bleiben müssen. Und wenn sie sehr gut war, hat sie es sogar geschafft, eben diese gesellschaftlichen Zwänge sehr hellsichtig und intelligent zu hinterfragen. Und dann wird Operette sogar politisch - ein Adjektiv, das einem nicht unbedingt als allererstes im Zusammenhang mit Operette einfällt.

IV OFFENBACH - DIE ERFINDUNG DER OPERETTE

Die Erfindung der Operette war auf jeden Fall ein Politikum: Als Offenbach im restriktiven Paris der zweiten Republik seine Bouffes Parisienne eröffnen wollte, mußte er sich mit allen möglichen politischen Einschränkungen herumschlagen. Die Zensur erlaubte nicht mehr als drei Mitwirkende pro Stück, damit auch keiner auf die Idee kam, irgendwelche revolutionären Volksmassen auf die Bühne zu bringen. Das war den Chormassen der Grande Opera vorbehalten, wo der französisierte Berliner Komponist Meyerbeer staatstragende Oper machte, so wie Roland Emmerich und Wolfgang Petersen heutzutage ihre amerikanischen Heldenfilme. Jacques Offenbach saß als Cellist in eben dieser Pariser Oper im Graben und ärgerte sich über das hohle Pathos über ihm auf der Bühne und beschloß, sich darüber lustig zu machen. Vielleicht ist Offenbach deswegen der einzige Operettenkomponist, der es unwidersprochen in den Olymp eben dieses Weltkulturerbes geschafft hat und den man auch heute noch an der Volksbühne spielt. Bei ihm sind alle Zutaten der Operette noch so deutlich ironisch von einander abgesetzt, daß es auch der Intellektuelle begreifen kann.

Zwei Operetten zumindest gibt es deswegen von Offenbach, über deren Rettung wir uns hier wohl keine Gedanken machen müssen: „Orpheus in der Unterwelt“ und „Pariser Leben“.

Diese beiden Werke beinhalten eigentlich alles, was die Qualität der Gattung Operette ausmacht: Einen durch und durch aufklärerischen, da satirischen Blick auf die Gesellschaft, komplette Verneinung jeder Ideologie, jeder Religion und jedes Fanatismus, das Personal auf der Bühne sind Menschen in Lebensgröße und keine Götter, im Gegenteil: sogar die Götter sind bei Offenbach Menschen, die Oper wird parodiert und damit die Kunst nicht ernst genommen, und das Ganze ist dramaturgisch und musikalisch erstklassig gemacht.

Das sind im Grunde genommen alle Bestandteile, die eine gute Operette ausmachen. Und eine Möglichkeit, die Operette wieder zu entdecken und damit zu retten, wäre, jedes Werk auf diese Qualitäten abzuklopfen. Geht man mit dieser Sichtweise, quasi mit der Suchbrille nach dem satirischen Potenital, auf spätere Werke der Gattung zu, wird man überrascht feststellen, wie böse und hellsichtig viele vermeintlich rührseligen Situationen im Original gemeint waren. Dann fällt auf, wie absichtsvoll ironisch die großen Gefühle zitiert werden, um Verlogenheit und Blasphemie aufzudecken, wie oft es in der Operette um Sex und Geld geht, wenn von Liebe gesungen wird, und vor allem, wie gnadenlos die vermeintlich apolitische Kunstform Musik permanent instrumentalisiert wird, um zu zeigen, wie schnell der Mensch von seinem Trieb und seinen Süchten deformiert wird.

Wie gesagt, Offenbach spielt mit sehr offenen Karten und macht uns dadurch den Genuß nebst Erkenntnisgewinn leicht. Das mögen wir, weil wir es nicht mißverstehen können.

Orpheus, der in der Mythologie mit seiner Musik Steine zum Weinen brachte, nutzt seine Gabe jetzt dazu, um seine Geigenschülerinnen ins Bett zu kriegen. Nachdem Euridice mit dem Nachbarn durchgebrannt ist, der sich als Höllenfürst Pluto entpuppt hat, will Orpheus sie nicht aus Liebe zurück, sondern nur, weil die personifizierte öffentliche Meinung ihm in der Presse die Hölle heiß machen wird, und die Götter übertreten so ziemlich jedes Gesetz, daß sie noch vor Minuten im Olymp verabschiedet haben. Und anstatt daß Offenbach nach dieser dramaturgisch brillanten Schlammschlacht der niederen Instinkte uns mit einem moralischen Fazit belehrt, macht er das Publikum zum musikalischen Komplizen. Er komponiert den CanCan, und wir sitzen mittendrin in dieser unerlösten Welt und wissen nicht nur, daß wir da auf der Bühne gemeint sind. Wir wollen mittanzen, gar nichts anderes als dabei sein. Das ist schon eine kathartische Leistung allererster Klasse, und dafür ist Offenbach ja auch Weltkulturerbe.

„Orpheus in der Unterwelt“ war zuerst ein Mißerfolg, bis ein empörter Kritiker darauf hinwies, daß in diesem Stück so ziemlich jeder Pariser von gesellschaftlicher Bedeutung durch den Kakao gezogen würde. Danach war der Orpheus ein gigantischer Erfolg, bald gefolgt von der ähnlich konzipierten „Schönen Helena“, wo das Personal des Trojanischen Krieges als Lachnummer über die Bühne torkelte und die Titelfigur eine nur notdürftig kaschierte Parodie auf die Kaiserin Eugenie war.

Nach diesen beiden mythologischen Erfolgen machte „Pariser Leben“ sich gar nicht mehr die Mühe, seine kritische Haltung historisch zu verbrämen.

Die Geschichte zweier junger Männer, die die Pariser Weltausstellung dazu nutzen, um mit Hilfe ihrer Clique einem unbedarften schwedischen Graf seine Gattin auszuspannen, spielte absolut im Hier und Jetzt, am Tage der Uraufführung direkt vor der Haustür.

Und damit tauchen die letzten zwei Kennzeichen einer guten Operette auf: Das zeitgenössische Sujet und das Sentiment. Die Brisanz des aktuellen Sujets liegt auf der Hand. Das Publikum weiß, wovon geredet wird und begreift die Anspielungen entweder sofort, oder sie stimmen einfach nicht. Da wird die Operette zum Kabarett, und das ist nicht ihre schlechteste Qualität.

Das Sentiment hat just in dieser Welt scheinbar überhaupt nichts zu suchen. Merkwürdigerweise bedingen sich diese beiden Ingredenzien, Aktualität und Gefühl, in der Operette aber oft gegenseitig. Wenn im Orpheus noch kaum echte Sehnsucht auftauchte (außer vielleicht in der Figur der Euridice) singt in „Pariser Leben“ die Kokotte Metella zwei sehr aufrichtige Arien, das melancholische Briefrondo und einen schwermütigen Musettewalzer, beide Nummern weder ironisch gebrochen noch kabarettistisch instrumentalisiert.

Diese beiden Arien, die melodisch eher in die Oper verweisen und ähnlich auch später bei „Hoffmanns Erzählungen“ auftauchen, haben aber eine ganz klare dramaturgische Funktion: Nämlich, die Verluste dieses wahren Gefühls in der dargestellten Welt erst sichtbar zu machen. Nicht umsonst singt dieses Lied bei Offenbach die Prostituierte und nicht die Gräfin, die ein quarzprovinzielles Ständchen über die Pariser Oper zum Besten geben muß, was in Offenbachs Fall sicher nicht so sehr gegen die Schweden gemünzt war als vielmehr gegen die Grand Opera.

V DIE GOLDENE ÄRA - „FLEDERMAUS“ & CO

Das große Gefühl ist also durchaus Bestandteil der Operette, aber immer zur Unzeit, nie mit Erfüllung gesegnet und dadurch fast immer komisch gebrochen. An dieser Stelle aber wird die Operette extrem störanfällig. Eben dieses emotionale Moment, meistens das große Liebesduett, herausgerissen aus dem Kontext, verkündet plötzlich die These, die im eigentlichen Stück karikiert werden soll: Die Behauptung, Liebe wäre das wichtigste auf der Erde, könnte Berge versetzen und entbinde sowohl Publikum als auch Interpret davon, sich auch nur noch einen vernünftigen Gedanken über die Welt und ihren tragikomischen Zustand zu machen. Wenn diese besoffen-gefühlsduselige Übereinstimmung von Publikum und Sänger gleichermaßen erreicht worden ist, dann ist man bei Anneliese Rothenberger angekommen und die Operette allerdings nicht mehr zu retten.

Diese Mischung aus kühlem, amüsierten Blick und Sentiment zeichnet dann auch überraschend alle großen Operettenerfolge aus, die heute noch auf dem Spielplan zu finden sind. Es mag einem beim ersten Hinsehen gar nicht auffallen, aber in der Fledermaus zum Beispiel wird kein einziges Wort von Liebe geredet. Es geht einen ganzen Abend nur um Sex und Rache. Und das einzige Liebesmotiv im zweiten Akt wendet sich gleich an den gesamten Chor, als leicht verbrämte aber handfeste Aufforderung zum Alle miteinander. Gruppensex als kollektiver Lösungsvorschlag: das ist nicht unbedingt das, was man mit der goldenen Operette in Verbindung bringt.

Und so geht es munter weiter: Die „Schöne Galathee“ ist ein einziges erotisches Mißverständnis, und Pygmalion kann so schön singen wie er will, die fleischgewordene Dame treibt es nach ihrer Menschwerdung innerhalb des einstündigen Werkes gleich mit drei Verehrern. Und im „Bettelstudent“ gilt das schönste Liebesduett gar nicht erst dem Mann, mit dem Laura da gerade auf der Bühne singt.

Egal also, ob es wie die „Fledermaus“ ein tagesaktuelles Sujet ist, bei Suppé eine mythologische Operette oder bei Millöcker ein historischer Stoff. Immer ist der große emotionale Moment ein Mißverständnis, und wenn man der Operette Gerechtigkeit widerfahren lassen möchte, muß man diesen Moment herausarbeiten.

VI „DIE LUSTIGE WITWE“

Mit Anfang des neuen Jahrhunderts werden die gesellschaftlichen Konflikte und damit auch die Handlungen der Operette schärfer. In der „Lustigen Witwe“ erklärt die wirtschaftlich unabhängige Frau - Schreckbild einer angefressenen chauvinistischen Gesellschaft - einem ganzen Land den Krieg, wenn sein heruntergekommener Diplomat nicht bereit ist, für ihre zehn Millionen mit ihr in die Kiste zu steigen. Daß dieses Land ein kleiner Balkanstaat ist, dürfte 1905 ungefähr so brisant gewesen sein, als ob man heute ein Musical in Palästina ansiedelt. Und Liebe kommt in dieser Welt definitiv nur noch degeneriert vor. Die Musik wird nur da emotional, wo wirklich nichts mehr zu holen ist: Zwischen der verheirateten Valencienne und ihrem dämlichen Verehrer Camille, und schließlich in dem berühmten „Lippen Schweigen, s‘ flüstern Geigen“, währenddessen sich laut Originalregieanweisung Hanna und Danilo nicht angucken dürfen. Da sind wir dem modernen Menschen, der seine Gefühle nur noch mit sich selber abmacht, schon fast visionär nahegekommen.

Die „Lustige Witwe“ begründet die zweite Blüte der Operette, die sogenannte silberne Ära.

Das ist auch so ein nachträglich erfundener kitschiger Euphemismus, der die Operette

in eine harmlose Schublade stecken soll. Silbern klingt nach Schmuck und Dekoration, nach zweiter Liga, viel Glitzer und wenig Substanz.

Diese restriktive Benennung hatte eine guten Grund: Irgendwie mußte man der unglaublichen Breitenwirkung der Operette ja Herr werden. Die „Lustige Witwe“ schaffte es nämlich nicht nur gesamteuropäisch zum meistgespielten Werk, sondern hüpfte auch noch über den großen Teich und beherrschte zwei Jahre lang den Broadway, inclusive Merry-Widow-Hüten, Merry-Widow-Seife und Merry-Widow-Kaffeebechern. Soviel Erfolg macht mißtrauisch, und Karl Kraus ist an der Lustigen Witwe schier irre geworden: „Wie soll das noch werden, wenn das Fleisch immer teurer und die Witwen immer lustiger werden?“

VII VOM FALSCHEN GEFÜHL

Komischerweise war Karl Kraus einer der größten Verehrer Offenbachs und nahm es Lehar und seiner Witwe persönlich übel, eben diesen Offenbachschen Geist angeblich zu verwässern. Das mag aus heutiger Sicht merkwürdig scheinen, ist aber nichts weiter als eben das Mißverständnis im Kleinen, das heute der Operette im Großen die Existenz so schwer macht. Kraus reagierte extrem empfindlich auf Lehars unbewußten Geniestreich, die immer größer werdenden Diskrepanzen zwischen Wunsch und Wirklichkeit auf die Bühne zu bringen. Daß in der „Lustigen Witwe“ eine angeblich unmoralische Geschichte (das war Kraus‘ großer Vorwurf) mit wahrhaft emotionaler Musik erzählt wurde, ekelte ihn. Nichts anderes hat Offenbach getan, aber wie gesagt, mit offeneren Karten.

Bei Lehar werden die Grenzen zwischen echten und falschen Gefühlen immer fließender, wir nähern uns quasi einer postmodernen Gefühlsdarstellung, wo der Protagonist schon verinnerlicht hat, was von ihm erwartet wird und damit gar nicht mehr „authentisch“ reagieren kann. Diesen Verlust der Unschuld kennen wir als moderne Menschen alle, wenn wir in Momenten unseres Lebens plötzlich denken: „Das ist ja wie im Film!“ Und uns verpflichtet fühlen, genau wie im Film zu reagieren.

Dieses moderne Gefühl der Entfremdung ist ein ganz wichtige Eigenschaft des Operettenpersonals. Bei Offenbach noch dramaturgisch von außen an die Figuren herangetragen (Götter benehmen sich wie Menschen, die öffentliche Meinung wird kurzerhand personifiziert.), wandert die Entfremdung bei Lehar in die Figuren. Irgendwie spüre ich, daß ich ein Operettentenor bin, aber ich wäre so gerne authentisch. Das ist ein schmaler Grad, auf dem sich die Figuren bewegen, und wenn der Darsteller die Balance nicht findet, wird es leicht unerträglich. Kein Mensch will Operettentenöre pur sehen, und noch weniger Operettentenöre, die behaupten, ihre Gefühle wären echt.

Lehar selber hat unter dieser Spannung offensichtlich sehr gelitten, denn er hat in seinen späteren Werken immer mehr versucht, seinen Figuren diese verlorene Unschuld zurückzugeben. Sehr zum Schaden für die Operette: Die vermeintlich echten Gefühle im „Zarewitsch“, im „Land des Lächelns“ und in „Paganini“ sind nur schwer zu ertragen. Und spätestens, wenn Goethe in „Friderike“ 1927 zum Operettentenor wird, ist die Gattung an ihrem Ende angekommen.

In dieser Beziehung war die „Lustige Witwe“ ein - wohl eher zufällig - visionäres Werk.

Wir wissen mittlerweile, daß wir in der Richtung entfremdeter Gefühle große Schritte vorangekommen ist. Diese unsere emotionale Entfremdung in einer kapitalistischen Realität ist mittlerweile so groß geworden, daß uns die „Witwe“ fast harmlos vorkommt. Damals war sie es beileibe nicht.

VIII DIE SILBERNE ÄRA

Der „Witwe“ folgten zahlreiche ähnlich „aktuelle“ Werke.

Zwei Jahre später kommt 1907 die New Yorker „Dollarprinzessin“ über den großen Teich und kauft gleich zwei verarmte Adelige für sich und ihre Schwester. In der „Rose von Stambul“ kämpft eine junge Frau gegen den Koran (wohl das erste Stück zum Kopftuchstreit), und mitten im ersten Weltkrieg schlägt die Operette mit der „Csardasfürstin“ höchstpersönlich zurück: Die Varietesoubrette Silvia Varescu hindert den Grafen Edwin von Lippert-Weilersheim am Dienst an der Waffe und bietet ihm statt dessen die Welt des Tingeltangels als ernstzunehmende Alternative zu einer Realität an, die eh nicht mehr zu ertragen ist. Wenn diese Situation von Konwitschny in der Dresdner Semperoper in realitas gezeigt wird, regt sich immer noch die halbe Republik auf. Da soll noch einmal jemand behaupten, die Operette hätte keine Brisanz.

Die Werke der „silbernen Operette“ sind alles keine besonders romantischen Geschichten, und wenn man sie mit Offenbachschen Augen sieht, entwickeln sie auch heute noch ihre anarchistische Kraft. Man muß dies bloß sehen wollen. Im Programmheft der „Csardasfürstin“ schreibt die Komische Oper, Operette wäre eine Einladung zum höheren Blödsinn, weil in der Operette alles erlaubt und nichts ernst gemeint sei. Das ist absoluter Quatsch. Der Operette ist es extrem ernst. Sie lacht bloß drüber. Das ist ein kleiner Unterschied.

IX NIEDERGANG

Ab 1920 zersplittert die Operette in sehr verschiedene Untergenres, vom Kammersingspiel eines Ralph Benatzki über die große Revueoperette a la Paul Abraham bis zum Versuch, endlich Oper zu werden bei Künneckes „Ewiger Flamme“ und Lehars „Giuditta“.

Allgemein herrscht die Meinung vor, die Operette hätte sich zu diesem Zeitpunkt überlebt, und da ist sicher einiges Wahres dran. Ich glaube aber, die entscheidende Verunsicherung war für die Operette die Erfindung des Films, der ab da die Funktion des kollektiven Erzählmediums übernahm: Aktuelle Stoffe und überhöhte Gefühle waren in dem neuen Medium einfach besser aufgehoben, und die Operette hat darauf mit zahlreichen hilflosen Versuchen reagiert, den Film links oder rechts zu überholen. Das führte noch zu einigen großen Schlagererfolgen, dem „Weißen Rössel“ und der „Blume von Hawaii“ zum Beispiel oder Max Reinhardts schauspielerischer Neubearbeitung der „Dubarry“, aber wirklich neue Wege wurden für die Gattung nicht mehr gefunden. Das liegt zum einen daran, daß der europäischen Operette anders als in Amerika die musikalische Luft ausging. Das Musical hatte als großen Standortvorteil den Jazz, der eine ganze neue Gattung inspirierte. Und zum anderen natürlich an der unseligen Verquickung von Unterhaltung und Politik, die der Nationalsozialismus sich so gnadenlos zu nutzen machte. Von dieser perfiden Instrumentalisierung hat sich die Operette nie wieder erholt, und Adornos Verdikt, daß nach 1945 der Viervierteltakt nicht mehr komponiert werden darf, ist ebenso nachvollziehbar wie fatal für die Gattung. Von der erschreckend simplen Tatsache mal ganz abgesehen, daß nach Ende des Zweiten Weltkrieges 90% der Komponisten und Autoren tot oder vertrieben waren. Emmerich Kalman hat im amerikanischen Exil gemeinsam mit Lorenz Hart, dem Librettisten von Richard Rogers, an einer Operette „Miss Underground“ gearbeitet, die von Undercovernazis in New York handeln sollte. Daß diese Partitur aufgrund der Thematik von den Erben nicht herausgegeben wird, ist vielleicht der traurigste Beweis dafür, daß die Operette schließlich an der Realität gescheitert ist, die sie sechzig Jahre lang tapfer auf’s Korn genommen hat.

Daß das, um Adorno zu widerlegen, nicht so sein muß, beweist zwanzig Jahre später „Cabaret“, eine, um in europäischer Diktion zu bleiben „musikalische Tragikomödie“, die es sehr wohl schafft, diese Zeit musikalisch, im Viervierteltakt und trotzdem politisch angemessen auf die Bühne zu bringen. Vielleicht nicht umsonst mit „West Side Story“ das meistgespielte Musical in Deutschland. Denn es ist ein Musical im besten offenbachschen Sinne. Einmal mehr wird ein Stück um eine Hauptfigur herum konzipiert, die große Gefühle singt, aber eben an diesen in der Realität scheitert. Sally Bowls Song „Cabaret“ als große Durchhaltenummer zu bringen, ist, wenn man weiß, daß sie in diesem Song von ihrer Abtreibung erzählt, ebenso verkehrt, wie Metellas Musettewalzer aus „Pariser Leben“ als Liebeslied zu singen.

X RETTUNGSVERSUCHE

Wenn ich diese etwas riskante Behauptung aufstelle, daß das Musical nicht anders funktioniert als die Operette, (was von jedem Musicalfachmann natürlich bestritten wird) dann nicht, um irgendwelche Copyrightrechte an einer Gattung anzumelden, die es im Gegensatz zur Operette geschafft hat, zu überleben, sondern um dazu aufzufordern, an die Operette genau dieselben Qualtitätsansprüche anzumelden, die man an ein gutes Musical anlegt. Man täte ihr damit einen großen Gefallen.

Und damit sind wir beim letzten Punkt: Wie könnte man die Operette retten, d.h. wie muß man sie heute inszenieren und spielen, daß sie noch Interesse beim Publikum weckt, daß sie ihre Brisanz entwickelt und daß sie uns heute noch etwas über uns erzählt?

Wie gesagt, zum einen sollte man ihr eben diese Qualitäten unterstellen und nach ihnen suchen: Aktualität, Satire, echtes Gefühl, menschliches Maß, musikalische Form. Man wird sie nicht immer in gleicher Quantität finden, manchmal muß man auch nachhelfen, daß das Verhältnis der Zutaten wieder so stimmt, wie es vor hundert Jahren gestimmt haben mag.

Um die Aktualität zum Beispiel sichtbar zu machen, muß man entweder ganz viel über die damaligen Verhältnisse wissen. Das ist heute meistens nicht mehr der Fall. Dann muß ich das Werk eben so erzählen, daß es zu unseren heutigen Verhältnissen paßt. Ich muß die Direktheit des Werkes wieder herstellen. Bei Shakespeare ist das nicht unbedingt nötig, der hat Romeo und Julia von vornherein in ein Phantasieitalien verlegt. Einen Orpheus kann ich also vielleicht auch heute noch in Griechenland lassen, bei „Pariser Leben“ bin ich mir schon nicht mehr sicher: Kann ich das Werk in einem historischen Paris von 1870 spielen lassen? Wahrscheinlich nicht, wenn ich seine damalige Brisanz wieder fühlen möchte. Also muß bearbeitet werden. Für mich bei der Operette ein absolut zulässiger Vorgang, solange ich mir nicht anmaße, daß meine Bearbeitung länger hält als bis zur nächsten Saison. Dann muß eben eine neue her.

Ein sehr konkretes Problem der Operettenrezeption ist das bornierte „Fanpublikum“, daß darauf beharrt, seine Operette genauso zu sehen, wie sie angeblich einmal war - und in Wirklichkeit niemals gewesen ist. Dieses Publikum ist nach meiner Erfahrung nicht mehr zu überzeugen, was Operette wirklich sein kann. Was heißt, daß eine Rettung der Operette sicher nicht im klassischen Stadttheater stattfindet. Sondern eben in der Volksbühne oder in der Bar jeder Vernunft. Oder in der Neuköllner Oper.

Für den Interpreten heißt Operette die Herausforderung, genau den Grad von Wahrhaftigkeit und „so tun als ob“ zu finden, den diese Gattung ausmacht. Dazu braucht es ganz einfach Erfahrung und Knowhow. Die Mischung von Identifikation und „sich vom Leibe halten“ der Bühnenfigur macht einen großen Reiz der Operette aus, und das kann man in vielen autobiographischen Quellentexten nachlesen, bei Fritzy Massary oder Hortense Schneider, Offenbachs wichtigster Interpretin.

Anders herum haben viele Operettenkomponisten gewußt, für wen sie schreiben, eine fast vergessene Qualität im europäischen Theater, die in Amerika selbstverständlich ist. Kein Musicalkomponist würde Bernadette Peters oder Chita Rivera den selben Song schreiben.

Dieses Bewußtsein schafft Identität, und erst mit dieser Identität kann man als Darsteller wieder spielen und die nötige Doppelbödigkeit erreichen. Der wiedererkennbare Star, der selbst entscheidet, wie nah er die Figur an sich heranläßt, ist also nicht nur Garant für volle Kassen, sondern ein imanenter Bestandteil der Gattung. Selbst Brecht hat seinen Mackie Messer mit einem damaligen Operettentenor besetzt, der keine Minute einen Mörder glaubhaft spielen wollte. Darum schrieb Brecht die Ballade von Mackie Messer, und diese gewollte Fehlbesetzung macht einen guten Teil der Spannung der „Dreigroschenoper“ aus.  Brecht möge mir Verzeihen: ein klassischer Operettenmoment.

Am wichtigsten aber wird wohl immer wieder sein, die verschiedenen Zutaten der Operette genau so zu mischen, daß das typisch flirrend Uneindeutige der Gattung entsteht. Das ist gar nicht so einfach und muß vor allem künstlerisch gewollt werden. Die größte Gefahr bei der Operette ist, sie eindeutiger machen zu wollen, ihre Ecken und Kanten wegzubügeln und sie festzunageln.

XI KOCHREZEPTE

Die beschriebenen Ingredenzien der Operette - Satire, Aktualiät, echtes Gefühl, menschliches Maß und musikalische Form sind natürlich auch das ganz normale Handwerkszeug der großen Schwester der Operette, der Oper. Und da das Wesen der Operette fast nur ausmacht, in welchem Verhältnis diese Ingredenzien auf die Bühne kommen, beziehungsweise in welchem Unverhältnis, ist die Operette so extrem anfällig gegen Änderungen im Kochrezept. Ein bißchen zuviel Sentiment, und wir haben die Berliner Lokalposse, ein bißchen mehr Musik, und es wird eine komische Oper, ein bißchen weniger Musik wird Boulevard, und wenn die Menschen wieder ein bißchen größer werden als im wirklichen Leben, dann sind wir im Land des Lächelns, und das ist wie gesagt keine Operette mehr, das heißt bloß noch so.

Die Operette zu retten heißt also in diesem Zusammenhang, die Kochzutaten immer wieder möglichst unpassend zusammenzusetzen, und das künstlerisch perfekt und vor allem mit einem ganz eindeutigen heutigen Erzählwillen, denn sonst endet der holde Blödsinn wirklich im Dadaistischen Nirwana oder wird zur musealen Nabelschau, und da ist das Theater heute eh schon viel zu oft. Da muß die Operette nicht noch mithelfen. Aber wenn man es schafft, den originären Geist dieser Gattung wiederzuerfinden, gibt es wohl kaum eine Gattung, die so lustvoll intelligent, so verschwenderisch großzügig und so künstlerisch gekonnt erzählt, wie unmöglich unser Leben eigentlich ist. Und das ist dann schon eine Leistung, die ins Weltkulturerbe gehört