EIN HERZ SUCHT EINEN PARKPLATZ

Dieser Vortrag entstand anlässlich eines Symposiums über das bundesrepublikanische musikalische Unterhaltungstheater der fünfziger Jahre mit dem Titel ZWISCHEN DEN STÜHLEN
veranstaltet vom Deutschen Musicalarchiv und dem Studiengang Musical im Juni 2010

EIN HERZ SUCHT EINEN PARKPLATZ
über das schlechte Gewissen in der leichten Unterhaltung  

Geschichte ist immer eine Geschichte der Sieger. Diese Formulierung ist ebenso abgegriffen wie wahr. Und selbst, wenn dieser Aussage immer auch ein Hauch von Missgunst anhaftet, um eben diese Sieger zu diskreditieren, bleibt die Tatsache bestehen: Künstler und ihre Werke, die es in den Kanon der kulturellen Allgemeinbildung geschafft haben, bleiben bestehen. Der Rest wird vergessen.

Dieses Symposium sollte ein Versuch sein, dieses darwinistische Prinzip für einen kurzen Moment auszuhebeln. Wir betreiben quasi „Artenschutz“ für eine vom Aussterben bedrohte Gattung. Das ist in jedem Fall ehrenhaft, ob es Erfolg haben wird, weiß keiner.

Während der Beschäftigung mit dem Thema dieses Symposiums ist mir bewusst geworden, dass ich - und ich denke, so geht es vielen von uns-  das Thema und das künstlerische Material mir zweierlei Maß messe.

Da ist zum einen der historisch interessierte Liebhaber des Genres, der alles, was wir in den letzten sechs Monaten gesichtet, entdeckt und erfahren haben, mit  der Begeisterung des echten „Fans“ durchstöbert, immer wieder erschlagen von der Fülle des Materials, manchmal amüsiert von skurrilen Zeiterscheinungen, durchaus auch enttäuscht ob der Naivität und bewusst unpolitischen Haltung dieser Zeit- aber eben doch immer mit dem Blick des „Liebhabers“, der, wie wir als eingefleischte Operettenkenner ja  wissen, alles mit der rosaroten Brille sieht.

Auf der anderen Seite sehe ich das Material aus heutiger Sicht als Regisseur und Autor als neugieriger Konkurrent und Nutznießer.  Der Regisseur in mir hofft auf eine lohnende Ausgrabung, der Autor hofft auf Tricks und Kniffe in unserem an deutschen Vorbildern so armen Berufszweig. Wie haben die das damals gemacht, was kann ich, ganz im Sinne Brechts, klauen und weiterentwickeln- kurz gesagt: Was nützt mir das Graben in dieser vergessenen Vergangenheit?

Diese Dualität der Betrachtung ist vielleicht selbstverständlich. Wir arbeiten mit und in einem Genre, dass zu einem Gutteil von Überwältigung und Verführung lebt. Unser Publikum sind „Fans“ und Liebhaber, und wir selber müssen es auch sein, um all unsere Energie jeden Tag wieder  in diese wunderbar unnötige Gattung zustecken. Anderseits brauchen gerade wir einen klaren Blick für Qualität und Inhalt. Denn wenn wir schon sehenden Auges in einer verführerischen Gattung arbeiten, ist es umso mehr unsere Pflicht zu wissen, wozu wir unser Publikum denn nun verführen wollen. Soviel Schillersche Moralische Anstalt muss dann sogar im Musical sein.

Dieses Symposium ist der wissenschaftliche Versuch, sich unserer doch recht unwissenschaftlichen Gattung zu nähern, sollte also eigentlich den „zweiten“, professionellen Blick schärfen. Ich persönlich habe während der Beschäftigung mit dem Material die gegenteilige Erfahrung gemacht. Was als Versuch begonnen hat, mehr Klarheit und Übersicht in das Material und die historischen Abläufe zu bringen, endete bei mir persönlich wieder in einer Art Überwältigung. Wobei ich nicht von den Werken überwältigt war, sondern von der historischen Situation. Die persönliche Tragik der Biographien, der künstlerische Verlust im Vergleich zu der Zeit vor dem 2. Weltkrieg und das vergebliche Bemühen, an diese untergegangene Welt anzuknüpfen, das alles rührt und bedrückt mich in einer Form, die die Kunst selbst zu dieser Zeit bei mir kaum leistet.

Ich spreche diese vielleicht selbstverständliche Beobachtung deshalb noch einmal so explizit an, weil mir während der Beschäftigung mit diesem Thema klar geworden ist, wie unlösbar mein künstlerischer Blick mit meinem politischen schlechten Gewissen verwoben ist und wie schwer es mir fällt, einen wie auch immer gearteten objektiven Blick zu entwickeln.

II

Wir alle kennen dieses Phänomen der Befangenheit, wenn es um die Beurteilung der Kunst des Dritten Reiches geht- zugegebenermaßen die letzte Phase, in der die Gattung des musikalischen Unterhaltungstheaters- bzw. hier vor allem die Filmoperette-  wirkliche Massenwirkung und damit kollektiven Bekanntheitsgrad erreicht hat: Ist dieser „künstlerische Erfolg“ eine kreative Nachwehe der Goldenen Zwanziger? Oder schreibt ein verfolgter Bruno Balz seine Zarah-Leander-Hits dermaßen subtil subversiv, dass eben doch ein inhaltliches Wollen den Erfolg begründet? Wahrscheinlich liegt die Breitenwirkung doch wohl eher an der politischen Gleichschaltung, der sich kein Publikum entziehen konnte? Oder war Michael Jary einfach ein begnadeter Komponist?    

Zumindest letztere Behauptung dürfte keiner von uns in den Raum stellen, ohne nicht alle zuvor genannten Einschränkungen politisch korrekt angemerkt zu haben. Und zu allem Überfluss wird unser Urteil noch durch den leichten Grusel beeinflusst, wenn wir uns selbst dabei ertappen, wie wir bei den schmissigen Durchhalteschlagern der vierziger Jahre unbewusst im Takt mitwippen.

All diese hochemotionalen Einschränkungen gelten auch für dieses Symposium. Nun natürlich mit umgekehrten Vorzeichen. Die Dagebliebenen blockieren, wie wir gehört haben, die Produktionsmittel, den Remigranten wird ihre künstlerische Existenz ein weiteres Mal vorenthalten, die gewollt apolitischen Verhältnisse tun ihr Übriges und es fällt zumindest mir enorm schwer, die eigentlichen künstlerischen Qualitäten unvoreingenommen herauszuschälen.

Das ist bedauerlich. Denn wie gesagt, ich wollte doch was lernen und klauen für meine eigene Arbeit. Aber das geht natürlich nur, wenn ich zu einem zumindest für mich schlüssigen Urteil gelange, was denn lernens- und klauenswert ist. Und für eine klares Urteil brauche ich einen klaren Standpunkt. Den habe ich offensichtlich nicht.

Und trotzdem hat sich der Blick auf diesen mir bis dato eher unbekannten Teil unserer Geschichte gelohnt. Zum einen ist es ja schon ein Forstschritt, sich über seine eigene Befangenheit klar zu werden. Darüber hinaus lernt man ja auch von Defiziten;

Wenn mich während der Recherche immer wieder das Gefühl beschlichen hat, dass viele gute Ansätze und im Grunde richtige Ideen nicht bis zu Ende durchgespielt wurden, dass es gewisse Themen, aus welchen Gründen auch immer, nicht auf die Musiktheaterbühne geschafft haben, warum aber vor allem die schon erwähnte „Breitenwirkung“ so plötzlich wegbricht, stellt sich mir als Autor ,der heute mit ganz ähnlichen Problemen zu kämpfen hat, natürlich die Frage nach dem Warum.

Also: kurz und knapp gefragt. Was kann ich als heutiger Autor und Lehrer vom Musiktheater der fünfziger Jahre lernen?

III

Ich habe es ja schon angedeutet : Die Werke, die wir im Zuge unseres Konzertes und während der Vorbereitung zu diesem Symposium kennen lernen durften, haben  mich künstlerisch nicht unbedingt beeindruckt. Fast immer waren die Umstände der Entstehungszeit spannender als das Werk selber und in toto bleibt eine zum Teil nachvollziehbare, in ihrer Absolutheit aber völlig unbegreifliche Entpolitisierung des Genres.

Es ist vielleicht verständlich, dass ein Robert Stolz – und wie wir gehört haben- mit großer Breitenwirkung die Erfolge seiner Jugend revitalisiert. Friedrichs Schröder nahtloses Weitermachen leuchtet ebenfalls ein; Hochzeitsnächte waren im Paradies so erfolgreich, warum sollten sie es in Shanghai nicht wieder sein? Und dass Emmerich Kalmann mit seiner „Arizona-Lady“ nicht reüssieren konnte, liegt sicher nicht nur an dem unmenschlichen Empfang, den Österreich seinem ehemaligen Exportschlager breitete.

Gerade Kalmann war auch vor dem Krieg schon ein Meister des eigenen Plagiats, und seine fast schon holllywoodeske Serie von Sequel-Operetten, immer mit einer ungebärdigen weiblichen Titelfigur und fast immer mit einem Inkognito-Helden versehen, brauchte vielleicht einfach keine weitere Fortsetzung. Auch wenn das ungebärdige Frauenzimmer in diesem Fall ein Pferd war.

Was mich vielmehr interessiert hätte ist das immer wieder kolportierte Gerücht, das Kalman im amerikanischen Exil mit Lorenz Hart an einer Operette namens „Miss Underground“ gearbeitet haben soll, mit echten Nazis als Protagonisten. Das wäre die sicher spannendere Entdeckung gewesen. Nur wie gesagt; vielleicht ist es nur ein schönes Gerücht.

Aber dieses Gerücht weist in die Richtung, was der Musiktheaterproduktion nach dem Krieg in Deutschland und Österreich gefehlt hat. Es muss sicher nicht der tagespolitische Biss einer Dreigroschenoper sein, aber den wirklich großen Operettenerfolgen lag immer auch eine thematische Aktualität zugrunde und sie entwickelten dadurch ihre satirische Qualität; Seit Offenbach ist die Operette immer auch Spiegel der politischen Zustände. Und selbst eine Csardaszfürstin trägt noch spöttisch eine sterbende Monarchie zu Grabe und sogar Die Lustige Witwe benennt sowohl Frauenemanzipation als auch gnadenlosen Kapitalismus als zwei der großen Geiseln des aufkommenden 20. Jahrhunderts.  

Zugegeben; diesem tagespolitischen Biss hat die Operette selbst ganz freiwillig schon zehn Jahre  vor der Machtergreifung abgeschworen. In der Beziehung ist Franz Lehar selber mit seinem Semitragischen Spätwerk Totengräber der eigenen Gattung; eskapistisch, weltfremd, handwerklich und melodisch auf höchstem Niveau, vor allem aber völlig witzlos. Und aus diesem Grunde heute fast ebenso wenig ernsthaft spielbar wie Kalmans Arizona-Lady. Und zumindest diese Feststellung kann man  politisch ohne schlechtes Gewissen machen: Lehar war ganz sicher kein Opfer der politischen Veränderungen- eher das Gegenteil.

Die Abwesenheit von „Aktuellen“ Themen geht Hand in Hand mit dem Verlust der satirischen Qualität. Das satirische Element war immer ein existentieller Bestandteil der Operette- und macht sie im Idealfall zeitlos. Die der Satire innewohnende Distanz  ist vor allem für spätere Generationen ein unverzichtbares Element, um die Werke auch außerhalb ihres direkten Kontextes Lesen zu können. Das weiße Rössl können wir heute noch spielen. Einen Paganini kaum noch.

IV

In den Werken, die in diesem Symposium behandelt wurden, fehlt die Satire fast völlig.

Warum ist das so? Dass das kriegsversehrte Publikum nach all den Schrecken eine große Sehnsucht nach heiler Welt hatte, ist sicher richtig- aber seit wann haben sich Künstler immer daran gehalten, was das Publikum will?

Nun könnte man argumentieren,  dass den Machern aufgrund der historischen Situation der Humor zu recht abhanden gekommen ist. Warum aber funktioniert es dann im Film? Der Film zögert keine Sekunde, sowohl die anarchistischen Zustände der Nachkriegszeit als auch die kleinbürgerliche Sehnsucht der Menschen satirisch auf’s Korn zu nehmen- und mit großem Erfolg. Wir Wunderkinder, Hallo Fräulein, Das Wirtshaus im Spessart- fast alle musikalischen Erinnerungen an die fünfziger Jahre sind mit dem Film verknüpft- nicht mehr mit dem Theater. Eine Entwicklung, die das Musical auch in Amerika erleben musste- aber dort doch erst mit dem Siegeszug der Popmusik. Bis spät in die sechziger Jahre dominieren dort die Musical-Hits die Charts. In Deutschland hat das Musiktheater mit dem Ende des zweiten Weltkrieges seine Funktion als Vertreter einer Kultur für alle längst verloren.

In Amerika ist dieses Entwicklung fast gegenläufig; Gerade in der Dekade bis Mitte der fünfziger Jahre entwickelt sich das Musical von der  sophisticated New Yorker Musical Comedy zur identitätsstiftenden  amerikanischen Leitkultur. Rodgers und Hammerstein gelingt es mit ihren Werken, für eine Gattung  ähnlich omnipräsent zu werden wie ein Johann Strauss für die Operette in Wien und für das Musical später nur noch Andrew Lloyd Webber.

Einzelne Versuche, diesen Erfolg in Deutschland zu wiederholen, gibt es zwar. Aber sie sind selten und noch seltener vom Erfolg gekrönt. Arizona Lady ist ganz explizit eben keine Genre-Erneuerung wie Oklahoma, eher schon das Gegenteil. Zwischen der Gräfin Mariza und Arizona Lady liegen über zwanzig Jahre, und trotzdem wiederholen Kalmann und seine Librettisten das alte Erfolgsrezept  bis in das kleinste Detail. Übernommen wird nicht der innovative Umgang mit dem Tanz geschweige denn Hammersteins ehrlicher und damit auch wieder - wenn auch sehr liebevolle- satirische Blick auf die Figuren. Übernommen wird nur das vordergründig erfolgversprechende Lokalkolorit des Wilden Westens.

Und so hat  auch ein Prairie-Saloon das offensichtliche Problem, das wir in Deutschland relativ wenig Prairie haben. Rodgers und Hammersteins große Leistung für das Musical war, die Gattung national identitätsstiftend neu zu erfinden- und das umso mehr, je weiter weg sie ihre Schauplätze wählten. Sound of Music ist kein Hohelied auf Österreich. Ein Hohelied auf den amerikanischen Way of Living ist es auf jeden Fall.

Dieses zweite Erfolgsgeheimnis für eine funktionierende Massenkultur, die nationale Identität, taucht in den Werken der Fünfziger Jahre ebenfalls kaum auf. Ebenso wie es die Nachkriegsmenschen aus ihrer zerbombten Heimat nach Italien zieht, geht auch die Operette größtenteils auf Reisen: Nach Paris, nach Shanghai, und natürlich immer wieder nach Österreich. Also entweder ins Ausland oder in die Vergangenheit. Auch hier ist der Film wieder schneller. Man muss „Grün ist die Heide“ nicht mögen, aber der Deutsche Heimatfilm hat es in einer Form in das kollektive Unterbewusstsein gebracht, von der das musikalische Unterhaltungstheater nur träumen kann.

Natürlich gibt es Ausnahmen; Charells Versuch, mit Katharina Knie den Caroussel- Erfolg von Rodgers & Hammerstein  unter deutschen Vorzeichen zu wiederholen, ist ambitioniert und scheitert wohl eher an musikalischen Schwächen als an der Grundidee. Aber vor allem mangelt es wieder einmal an fehlender satirischer Distanz zu  der Situation und den Figuren. Immerhin nimmt mit diesem Werk die Legende Hans Albers seinen Bühnenabschied, und da war wohl kein Platz für Ironie. Das merkt man dem lamoyranten Werk  leider auch an.

V

Ein wirklich Erfolg versprechender Ansatz waren die Hamburg-Musicals von Lotar Olias, allen voran „Heimweh nach St Pauli“, im besten Sinne Starvehikel für den jungen Freddy Quinn. Da stimmt die Grundidee, das Hier, also Hamburg, und das Heute, die Nachkriegszeit auf die Bühne zu holen. Und manche Nummern des Werkes zeichnen sich durch, wenn auch harmlose, kabarettistische Qualität aus. Dass der Protagonist der Show aber ein  Broadwaystar sein muss, der im Laufe der Handlung erkennt, dass es sich in Hamburg doch schöner singen lässt als auf dem Big White Way spricht dann doch wieder für mangelnde Realitätsferne. Caterina Valente hat sich meiner Wissens nie über ihre amerikanische Karriere beschwert.

Überhaupt ist den meisten Werken der fünfziger Jahre eine bürgerliche Sehnsucht eigen, die allen Gattungsregeln im Grunde widerspricht. Alles, was das Musical gut kann; Glamour, Ekstase, Rausch- scheint den damaligen Machern ebenso suspekt zu sein wie dem Publikum. Nicht umsonst ist der größte Erfolg dieser Jahre „Feuerwerk“ ein einziger Lobgesang auf das elterliche Wohnzimmer, und der böse Zirkus bricht zwar überaus bühnenwirksam in die biedere Idylle ein, ist aber doch eine einzige Warnung vor dem gottlosen Theaterbetrieb und verschwindet zur Erleichterung aller im dritten Akt.

Ist das immer noch eine heimliche Revanche an unserer leichtherzigen Gattung, die so laut und fröhlich gesungen hat, dass wir völlig überhört haben, dass der Krieg schon lange verloren war? Man mag es kaum glauben- das wäre doch im Grunde eine arge Überschätzung unseres gesellschaftlichen Einflusses.

Auffällig ist aber in jedem Fall die inhaltliche Selbstzensur der Kreativen zu dieser Zeit. Wenn man bedenkt, was viele dieser Menschen politisch erlebt haben, möchte man ihnen noch nachträglich zurufen; warum erzählt ihr davon nichts in euren Werken? Das können und dürfen wir wohl nicht, das weiß jeder, der seinen Großvater hat verstummen sehen, wenn es um Erlebnisse aus dem Krieg geht. Wer von uns weiß, was ein Friedrich Holländer erlebt und erlitten hat und was ihn dazu gebracht hat, am Ende seines Lebens künstlerisch so zu  resignieren? Wir können es nur respektieren und bitter bedauern.

Und doch ist es schwer nachzuvollziehen, warum gerade eine Generation, die politisch soviel erlitten hat, künstlerisch so privatisiert. In den anderen Sparten der so genannten E-Kunst, vor allem aber in der Philosophie ist das mitnichten so. Dort sind der Weltkrieg und der Holocaust Anlass zu einer geistigen Auseinandersetzung und einer Diskussionswut, die unserer heutigen Gesellschaft durchaus häufig abgeht. Und wie gesagt; im Film und vor allem auch im Kabarett findet diese Verarbeitung ja durchaus statt- manchmal sogar von den selben Autoren, die sich auf der Bühne so unverbindlich geben.

Selbst bei Holländer ist noch ein deutlicher Unterschied zu spüren, ob er für das Theater schreibt oder aber für Film und Kabarett. Seine späten Bühnenwerke sind in der Tat esoterisch ziemlich verschroben und retten sich dramaturgisch nicht immer glücklich in die Abstraktion des Lehrstückes der fünfziger Jahre. Für den Film und das Kabarett schreibt Holländer nach wie vor  bissig, politisch, satirisch und vor allem verbindlich. Da sitzt jeder Satz, da sind die Pointen auch gemeint. Warum fehlt diese Qualität in den Bühnenwerken?

VI

Viele Gründe sind in den letzten beiden Tagen dafür aufgeführt worden, dass das deutsche unterhaltende Musiktheater nicht an seine Erfolge aus den Zwanziger Jahren anknüpfen konnte. Und es macht einen noch nachträglich wütend, welch schäbiger Empfang den Remigranten bereitet wurde. Diese Mischung aus Scham, Trotz und Besitzstandswahrung, die den Geist der fünfziger Jahre –weiß Gott  nicht nur in unserem Gerne- ausmachte, beschämt einen noch nachträglich. Trotzdem müssen wir feststellen, dass die Werke, die diese Remigranten im Gepäck hatten, ebenfalls keine wirklich innovativen Anstöße geben konnten und nur selten an die Qualität der Vorkriegszeit heranreichten.

Das ist zum Teil menschlich nachvollziehbar; kaum einer dieser Künstler dürfte in der Emigration die  Zeit und den Kopf dafür gehabt haben, sich mit künstlerischen Weiterentwicklungen zu beschäftigen. Zum anderen dürfte auch das biologische Alter sein übriges getan haben. Nicht jeder Künstler erfindet sich mit Mitte fünfzig völlig neu.

Die Dagebliebenen wiederum waren von der internationalen Entwicklung so viel mehr abgeschnitten als sie selber ahnten, dass es selbst der neuen Generation nicht gelang, auf den längst fahrenden Zug aufzuspringen. Dies verbunden mit einer nachvollziehbaren, aber dennoch fast bockigen Scham hindert sie daran, dass die politische Realität  in welcher Form auch immer zurückkehrt auf die Bühne, von  der sie von den Nazis so gründlich vertrieben wurde.

Die eigentlichen Folgen diese künstlerischen Blockadesituation zeigen sich erst zwanzig Jahre später, Mitte der sechziger Jahre: In den fünfziger Jahren wäre es vielleicht sogar den Machern selbst schwer gefallen , einen Unterschied zwischen den großen Musicals von Rodgers und Hammerstein und einer „Katharina Knie“ von Spolianski und Charell auszumachen. Beides sind große Themen , beides sind Starvehikel und beanspruchen mit einem gewissen Selbstbewusstsein, State of the Art zu sein. Aber das künstlerische Handwerk klafft zu dieser Zeit schon sehr weit auseinander. Katharina Knie hat nichts von der innovativen Neugier von Rodgers& Hammerstein, die diese beiden Künstler vor allem auch bei ihren kommerziellen Erfolgen nie verloren haben. Vor allem aber mangelt es an Aufrichtigkeit. Was bei Rodgers& Hammerstein ehrlich nachempfundene Naivität ist, wird bei dem deutschen Gegenstück zum sentimentalen und damit verlogenen Rückblick.

Dieses falsch verstandene Erbteil der Operette ist dann auch die Krux für alle weiteren deutschen Musiktheaterstücke: Die unsägliche Satz von „ein paar schöne Stunden dem Alltag entfliehen“ ist sicher das unseligste Vermächtnis der fünfziger Jahre. In den Zwanzigern wurde man im Theater unterhalten- was etwas ganz anderes ist und dem amerikanischen Begriff des Entertainment viel näher kommt als die operettenselige Weltflucht, mit der das Musical in Deutschland heute noch hartnäckigst konnotiert wird.  Beim Entertainment muss man nicht zwangsläufig den Kopf ausschalten. Bei Anneliese Rothenberger hilft es schon sehr.

VII

Mit der sentimentalen Verherrlichung der guten alten Zeit und damit der Operette geht eine fatale Entwicklung einher. Das Publikum verliert den Glauben an den singenden Menschen. Menschen, die singen, sind in den fünfziger Jahren fast immer Künstler, der Alltagsmensch, wie noch in den Boulvardkomödien eines Benatzkis, singt nicht mehr. Das ist sicher auch ein Erbe des Filmoperette- schon Zarah Leander musste immer eine künstlerische Biografie auf den üppigen Leib geschrieben werden, die ihre mehr oder weniger sinnlosen Chansonausbrüche begründete. Diese Erklärungsnöte gab es in der  Operette eigentlich nie. Kein Mensch fragt, warum ein Bettelstudent singt. Er tut es einfach. In den fünfziger Jahren muss es schon ein junger Schlagerstar sein, der so verrückt ist, seinen halbstarken Gefühlen singend Ausdruck verleiht.

Diese Entwicklung aber verhindert ein ganzes Genre an seiner Weiterentwicklung. Während Peter Alexander auf dem Wörthersee Wasserski fährt, komponiert Bernstein seine West Side Story. Ein solches Stück wäre im Deutschland nicht möglich gewesen. Keiner hätte es geglaubt.      

In den sechziger Jahren scheidet sich dann auch die Entwicklung des Musicals endgültig.

Intellektuell hat die deutsche Gesellschaft ihre Hausaufgaben gemacht und die Studentenunruhen sind der Startschuss für den Versuch einer ehrlicheren Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Im selben Jahr hat in New York Cabaret Premiere; eine inhaltlich und formal gelungene Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, in der Hauptrolle eine Darstellerin der Uraufführungsdreigroschenoper. Wäre so ein Werk in Deutschland nicht viel eher zu erwarten gewesen? Im Gegenteil; Es wäre sogar völlig unmöglich. Das Misstrauen gegen die Gattung Musical sitzt mittlerweile so tief, das dem heute fast erfolgreichsten Werk der Gattung aufrichtiger Hass entgegenschlägt. So kann man Politik nicht auf die Bühne bringen. Nicht in Deutschland. Uns schon gar nicht im Musical.

Ich habe eingangs gefragt; Was kann ich von dem Musiktheater der Fünfziger Jahre lernen. Und in der Tat sind es hauptsächlich diese zwei Defizite, die ich aus der Beschäftigung mit dem Material mitnehme: Es ist absolut nötig, unseren Alltag wieder auf die Musiktheaterbühne zurückzuholen: musikalisch UND politisch.  Und wir müssen wieder an den singenden Menschen glauben. Ein Musiktheater, dass nur aus Retrospektive besteht und sich lediglich damit begnügt, lang bekannte Geschichten und längst gemachte Erkenntnisse noch einmal musikalisch neu zu verpacken, kann keine Wichtigkeit  für sich beanspruchen.  

Aber noch eine dritte Erkenntnis habe ich während dieses Symposium gemacht. Und während die beiden ersten für mir nicht ganz so überraschend kamen- man findet ja doch meistens das ,was man persönlich gerne finden will- hat mich ein Gedankengang doch überrascht.

VIII

Mir war auch schon vor diesem Symposium durchaus bewusst, dass die florierende Berliner Privattheaterszene im Rahmen der Gleichschaltung ebenso ausradiert wurde wir die Kunstszene selbst.   Aber dass das intelligente, freche und trotzdem massentaugliche Musiktheater in Deutschland zeitgleich mit dem Verschwinden dieser Privattheaterszene ausstirbt, gibt mir als Kind der hochgelobten deutschen subventionierten Theaterlandschaft schon sehr zu denken.

Ich persönlich habe bisher immer die kulturelle Neuorientierung nach dem 2. Weltkrieg als Todesstoß für die Operette gesehen. Mit der grundsätzlichen Entscheidung, nur unkontaminierte Kunst wie Goethe, Schiller, Mozart und Beethoven zum Botschafter des neu gegründeten Landes der Dichter und Denker zu machen, war die Operette und ihre ¾ Takt diskreditiert. Undenkbar, dass sich in den 50iger Jahren noch ein scharfer Geist wir Karl Krauss mit dem leichten Unterhaltungstheater beschäftigt- in den 20iger Jahren eine Selbstverständlichkeit. Diese Ignoranz der Hochkultur wird von uns Machern der leichten Muse häufig beklagt. Aber leider müssen wir selber zugeben, dass Deutschland seit Ende des 2. Weltkrieges kaum ein relevantes Stück Musiktheater zustande gebracht hat.

Aber Deutschland hat auch schon VOR dem 2. Weltkrieg kein relevantes Stück Musiktheater mehr hinbekommen. Die Operette stirbt ziemlich zeitgleich mit der Gleichschaltung der Theaterszene. Es ist also nicht nur die Zerstörung einer geistigen Kultur aus rassischen Gründen ,von der sich Deutschland nie erholt hat, sonder auch und vor allem die Zerstörung einer kommerziellen Infrastruktur. Dies zwar auch oft genug aus rassischen Gründen, aber doch zumindest zu gleichen Teilen aus ganz bewusst politischen. Und die deutsche Regelwut ist ja mit den Nationalsozialisten weiß Gott nicht verschwunden: In keinem Teil Deutschlands.  

Ich selber habe oft genug gewünscht, dass sich die unvergleichlich große deutsche Stadttheaterlandschaft endlich dem Musical in der Form öffnet, dass auch mal eine Uraufführung gewagt wird. Aber vielleicht geht das gar nicht? Vielleicht braucht unsere Gattung eigentlich den freien Wettbewerb, der uns erst dazu zwingt, künstlerisch innovativ zu werden, um auf dem Markt bestehen zu können?  

Denn seien wir ehrlich: Die Versuche sind da, an zahlreichen Landesbühnen werden Uraufführungen versucht. Selten mit Erfolg, und wirklich fast nie innovativ. Aber es ist nun mal nicht die Aufgabe eines Landestheaterintendanten, das Musiktheater neu zu erfinden. Sein Job ist aber durchaus, mit einem Elisabeth-Ripoff die Bude voll zu kriegen. Und einen regional beliebten Monarchen als Protagonisten gibt’s dank deutscher  Kleinstaaterei bei uns ja fast an  jeder Ecke.

Müssen wir raus auf den freien Markt, um gute Musicals zu schreiben? Viele Anzeichen sprechen dafür: Alle Qualitäten, die wir auf der Bühne heute vermissen, haben sich bei uns ja durchaus erhalten- aber fast immer in privatwirtschaftlichen Nischen. Was dem deutschen Musical fehlt:  Witz, Aktualität, vielleicht auch echte Starpower- gab und gibt es immer noch im Film und vor allem im Kabarett. Und diesen beiden Gattungen verdanken wir auch ein kulturelles Erbe der fünfziger Jahre, mit dem wir uns nach wie vor ganz gut identifizieren können. Im Gegensatz zur Nachkriegsoperette, für die wir eher ein bisschen schämen - und das leider nicht ganz zu unrecht.

Es ist vielleicht kein Zufall, das der einzig flächendeckende Musicalerfolg aus eben dieser- privatwirtschaftlichen Ecke kommt: Linie Eins von Volker Ludwig steht in bester Tradition der Tugenden des Kabaretts. Leider geht’s auf dieser Ebene musikalisch nicht weiter. Gute Komponisten interessieren sich nicht oft für Kabarett. Und gute Kabarettisten auch nur sehr selten für das Musical.

Diesem dritten Defizit stehe ich dann auch am ratslosesten gegenüber. Aktueller kann ich als Künstler selber werden- oder es mir zumindest vornehmen. Den Glauben an den singenden Menschen kann ich ebenfalls vorantreiben ,so gut es geht- und  tue es selber täglich als Lehrer und Regisseur. Aber die Infrastruktur kann ich nicht ändern Ich kann es nicht ändern, dass es kaum noch Privattheater gibt, die darauf angewiesen sind, innovativ zu sein, um zu überleben, ich kann es nicht ändern, dass die subventionierte Theaterlandschaft so billig produzieren kann, dass in Deutschland ein gewinnbringendes Musical eigentlich nicht möglich ist, und ich kann es nicht ändern, dass es aus eben diesen Gründen zuwenig Menschen gibt, die sich für eine Zukunft als Komponist oder Librettist entscheiden. Vor allem den letzten Punkt bedaure ich sehr. Konkurrenz  belebt das Geschäft.